Geschichte Fürstenhagens

675 Jahre Fürstenhagen

Im Anfang war das Wasser. Und das fanden die aus den fruchtbareren Gebieten unserer Heimat in die unwirtliche Gegend der Hochebene verschlagenen Siedler zum Ende des 1. Jahrtausends reichlich vor. Wer weiß schon, daß die vom Walberg kommende Losse durch Saubach und Fischbach in unserer Gemarkung verstärkt, am Zusammentreffen von Kaufunger Wald und dem Ausläufer der Söhre – Kirschenberg - ihr Tal beginnt?

Bestimmt ist die 1. urkundliche Erwähnung unseres Ortes Fürstenhagen -1312 wird in einer Grundstücksregelung des Kloster Weißensteins ein Conrad von Vorstenhagen als Zeuge erwähnt - nicht gleichzeitig das Gründungsjahr. Das müssen wir 30 bis 40 Jahre früher ansetzen, als sich mit der Gründung der Stadt Lichtenau die Gegebenheiten auf unserer Hochebene änderten. Viele Bewohner der Streusiedlungen und Kleinstorte im nordwestlichen Bereich, die seit dieser Zeit nicht mehr erwähnten Wüstungen Fischbach, Bezzerode, Rohrbach und vielleicht Hollenbach folgten den verlockenden Siedlungsbedingungen Landgraf Heinrich I. Sie zogen hinter die ihnen sicherer erscheinenden Stadtmauern von Lichtenau. Die "draußen vor dem Tore", teils wollten sie nicht, teils durften sie nicht, rückten dann ihrerseits angesichts der unsicheren Zeiten zusammen. Am versorgungsmäßig günstigen Zusammenfluß von Fischbach und Losse gründeten sie eine neue Siedlung. Da die Wälder und Felder ringsum aus dem Erbe der Reichenbacher Grafen weitgehend dem Landgrafen gehörten, unterstellte man sich dem absoluten fürstlichen Patronat. So entstand wohl auch der Name: Vorstenhagen, später Fürstenhayn und schließlich Fürstenhagen.

Das 1. Jahrhundert der Ortsgeschichte war gekennzeichnet von den häufigen Verpfändungen dieses landgräflichen Besitzes mit etwa 20 bis 25 Hausgeseß (Anwesen) und ca. 180 bis 200 Einwohnern. Kommissarische Herren waren die Diete von Fürstenstein und kurze Zeit noch der Deutsche Ritterorden. Dieser kirchliche Orden mit sehr viel weltlichen Manipulationen war um 1190 als "Orden der Ritter des Hospitals Sankt Marien der Deutschen zu Jerusalem", später kurz "Deutscher Ritterorden" im Heiligen Land gegründet worden. Seine ersten territorialen Besitzungen nach der Vertreibung zurück nach Deutschland waren durch Schenkungen der Grafen von Reichenbach um und in der Lichtenauer Hochebene, in der Gemarkung Fürstenhagen. Vor der Ortsgründung sind Fischbach und Bezzerode als'Ordensbesitz urkundlich nachgewiesen. Das störte und interessierte die mit Rodungen, Weidewirtschaft und dem Ringen um die kargen Ackererträge voll beschäftigten Bewohner recht wenig. Schlimmer war es dann schon mit der Pest, der Geißel des 14. Jahrhunderts. Stark beunruhigend waren auch die Kriege des Landgrafen, speziell mit den nahe gelegenen und ursprünglich zu Mainz gehörenden Spangenbergern. Sicher war die erste Kirche auf dem hochgelegenen, mit starken Mauern umgebenen Kirchhof eine Wehrkirche. Wahrscheinlich hat man den alten Unterteil des
Turmes in das 1489 geweihte, zweite Gotteshaus eingebaut.

Diese zweite Kirche, dem Heiligen Nikolaus und der Heiligen Katharina geweiht, ist das älteste Bauwerk der Gemeinde und eine der wenigen vorreformatorischen Zeugnisse in unserer Gegend. Das klar gegliederte Rippengewölbe des Chores zeugt von hoher Baukunst. Hier standen fast 400 Jahre ein spätgotischer Flügelaltar, heute im Landesmuseum von Kassel, sowie ein gotischer Taufstein, jetzt im Universitätsmuseum von Marburg. Die Reformation hinterließ in Kirche und dem laut Salbuch von 1553 auf 300 Seelen angewachsenen Dorfe keine großen Spuren. Der jetzt reformierte Priester kam weiterhin aus Lichtenau und die drückenden Abgaben mußten weiterhin zum Renthof nach Cassel gefahren werden. Das zur Zeit des großmütigen Philipp entstandene Jagdhaus in Fürstenhagen (heute Schulstraße Nr. 18) erlebte bei den vielen landgräflichen Großjagden seine Blütezeit. Es ist wohl nach dem Gotteshaus das zweitälteste Bauwerk. Viel einschneidender für unsere Vorfahren war dann der Dreißigjährige Krieg. Isolany und seine Kroaten, später Schweden, Marodeure und Strandgut dieses Völkermordens schlugen tiefe Wunden. Ein Glück, daß das Lossetal weitgehend versumpft war und die Hauptverbindungsstraße von Helsa über die heutige Friedrichsbrücker Höhe verlief. Trotzdem waren die Schäden auch bei uns ungeheuerlich. In der Bestandsaufnahme der Landgräfin Amalie nach dem Kroatenjahr 1637 (Milbrands Register) hatte Fürstenhagen zwar noch 41 Höfe, besser gesagt.Katen. Bei 15 Anwesen fehlte aber der Mann, wahrscheinlich in den Wirren oder bei der Verteidigung Lichtenaus umgekommen. Ein Pferd, 17 Kühe und drei Ziegen werden registriert, weniger als 10% der 200 Hektar-Flur sind bestellt. Die lange Regierungszeit des Patronatsherrn, Landgraf Carl, bringt einen ganz langsamen Aufschwung. Es beginnt das örtliche Schulwesen durch ausgediente Militärs. Die erste Schulhütte lag am Westrand des Kirchhofs, späteres Feuerwehrhaus. Das 18. Jahrhundert war auch die große Zeit der landgräflichen Forellenfänger im Ort. Diese vertraten hier den Fürsten, bestimmten mit bei der Vergabe des Grebenposten (Bürgermeister), mischten mit bei den Mühlrechten für Ober- und Untermühle. Sie befischten für den Hof in Cassel die sehr ergiebigen Bäche der Umgebung und bewirtschafteten auch den über 1 Hektar großen Teich vor der Diebhecke, wahrscheinlich auch den beim späteren Gut Teichhof, unweit der Einmündung des Steinbaches in die Losse. In der kurhessischen Zeit wird dann dieser Landgräfliche Forellenfänger zu Fürstenhagen in die Forstverwaltung integriert. Im Siebenjährigen Krieg wird der Ort von französischen Truppen des Generals Broglio besetzt. Es wird geplündert, aber nicht gesengt. Zum Ende des Jahrhunderts und zum Ausklang der Landgrafenzeit kam durch Vermietung von Hessischen Truppen an England Geld in die Hessische Staatskasse. Auch sieben Söhne aus Fürstenhagen kämpfen im amerikanischen Unabhängigkeits-Krieg jenseits des Ozeans.

Rechnen wir dem vergeblichen Einsatz dieser sieben Söldner in der neuen Welt die Generalüberholung unserer Kirche und den neuen Kirchturm mit dem barocken Helm (1791) zu. 1807 hieß es dann an der Losse: "Neue Herren, neues Glück"! König Jerome, von Napoleons Gnaden, trat an Stelle des 1803 zum Kurfürst beförderten Patronatsherrn. Seine Contrebutions-Akte (Abgabenordnung) für unser Dorf war nicht gerade rücksichtsvoll. Inzwischen näherte sich der Ort der 600 Einwohnergrenze. Der Kurfürst kam nach der Völkerschlacht von Leipzig zurück. Vorher gaben Kosaken einer russischen Befreiungsarmee Fürstenhagen einen weiteren internationalen Anstrich. Sie hausten auf der Mühlenwiese, etwa beim heutigen Kindergarten. Dann wurde der Kreis Witzenhausen geschaffen und Fürstenhagen mit Quentel seine westlichsten Grenzorte zum Landkreis Kassel hin. 1832 wurde dann die Verbindungsstraße von Kassel gen Osten durch das ganze Lossetal gelegt und unser Dorf rückte der weiten Welt damit ein Stückchen näher. Das war schon praktisch für ca. 150 Gemeindemitglieder, die mit Hilfe eines Auswandererbüros nach Amerika, ausnahmslos nach Texas, auswanderten. Erst in jüngster Zeit sind mit deren Nachfahren durch die Weltkriege abgerissene Kontakte neu geknüpft worden. Mit dem Ende der kurfürstlichen Zeit kamen die Preußen und der " Krawaller" (1866). Dieser im ganzen Hessenland bekannte Schalkswirt, Johannes Kregelius, betrieb seine Wirtschaft an der neuen Leipziger Straße und machte durch Gauden und Schwänke Fürstenhagen in der Literatur bekannt. Seine Kneipe profitierte auch stark durch die ab 1876 gebaute Cassel-Waldkappler-Eisenbahn. Im Dezember 1879 wurde der Bahnhof Fürstenhagen H.N. (das heißt in der preußischen Provinz Hessen-Nassau) und die Strecke dem Verkehr übergeben. Kassel mit seiner aufkommenden Industrie rückte näher. Noch vor dem 1. Weltkrieg wurde die großherzige Millionen-Stiftung des Andre Lenoir und seines weniger begüterten Bruders Konrad mit drei großen Waisenhausgebäuden am Ostrand des Dorfes errichtet. Über einige Umwege, wie Gebietsführerschule, U.S.-Hotel, Sammelplatz für Vertriebene, wurde später dort die Sozialpädagogische Lehranstalt Kassel, das Auguste-Förster-Haus, etabliert. Die Neuzeit mit zwei verlorenen Weltkriegen, der Bau einer Munitionsfabrik im nur zwei Kilometer nördlich gelegenen Waldgebiet, im vormals Deutsch-Ritterorden-Besitz Hirschhagen, kamen dann auf uns zu. Zunächst mußten Unterkünfte für die Bauarbeiter geschaffen werden, dann für Beschäftigte der Fabrik und ihre Familien (Siedlung), später für Fremdarbeiter die verschiedensten Läger und schließlich nach 1945 für fast 400 zwangsausgesiedelte Heimatvertriebene aus dem Osten. Das alles stellte die Struktur des Dorfes Fürstenhagen auf den Kopf und ließ den Ort aus den Nähten platzen. Man war bei ca. 2.500 Einwohnern angelangt. Es kamen dann etwa 30 Jahre Umschichtung, Entwicklung und Aufbau auf der günstigen Welle des Wirtschaftswunders.

Ende Juli 1962 feierten wir dann an Losse und Fischbach unser "Jahrhundert-Fest", die 650 Jahrfeier der 1. urkundlichen Erwähnung und damit verbunden die Einweihung einer für die ganze Umgebung richtungsweisenden Mehrzweck-Halle. Es begannen Kontaktaufnahmen mit der österreichischen Gemeinde Schlierbach und der kleinen französischen Stadt Orgelet, die 1968 in der Ringverschwisterung dieser drei Orte ihren Höhepunkt fanden.

Mit dem 1. Januar 1974 wurde Fürstenhagen aufgrund der Landesgesetze in die Nachbarstadt Hessisch Lichtenau zwangseingemeindet. Das traf ein gut entwickeltes Gemeinwesen besonders schmerzlich. Der Ort besteht heute aus ca. 400 Häusern, zwei Industriebetrieben und einer Vielzahl von Handwerks- und Gewerbebetrieben. Nur noch drei Vollerwerbsbauern, eine Geflügelfarm und ein Dutzend Feierabend-Landwirte halten die etwa 550 Hektar-Feldflur in Schwung. Die Mehrzahl der Bevölkerung fährt nach Bettenhausen, Baunatal, Lichtenau und Hirschhagen zum Broterwerb. Es wird demonstriert, daß man in einer Auspendlergemeinde durchaus leben kann. Schmerzlich im letzten Jahrzehnt war neben dem Verlust der kommunalen Selbständigkeit das Aufgeben der Krawallerschen Traditions-Gaststätte, war das Einstellen des Personenverkehrs der Cassel-Waldkappler-Eisenbahn und die Verlegung des Auguste-Förster-Hauses nach Kassel. Das waren nicht zu überbrückende Einbußen, über die der Erhalt und die Sicherung des Fürstenhagener Krankenhauses nur etwas zu trösten vermag. Fast sieben Jahrhunderte Ortsgeschichte sind geprägt vom Auf und Ab im Wandel der Zeiten. Das so turbulent ausgehende Zwanzigste Jahrhundert macht da bei uns keine Ausnahme. Aber der Fleiß unserer Einwohner und hessische Anspruchslosigkeit werden schon dafür sorgen, daß Fürstenhagen immer eine lebendige Gemeinde bleibt.

Werner Friedrich

Literatur:
Heinrich Ruppel "Der Schelm im Volk" (Bärenreiter Verlag)
Heidelbach "Mundartdichtungen"
Festschrift ,,650 Jahre Fürstenhagen"
Zeitung "Lossetalfest 1975" (die landgräflichen Forellenfänger in Fürstenhagen)
Zeitung "Lossetalfest 1977". "Fürstenhagen und seine Amis" (Auswanderer)
Quelle: Festschrift zur 675 Jahr-Feier 1987